Das städtische Vorbild


Der neue Geist der jüngsten Zeit hat auch in unserer Gegend seinen Einzug gehalten und den Wesenskern der Landbevölkerung von Grund auf umgestaltet. Alte Geräte und Möbel verschwinden und werden durch vermeintlich schönere und modernere ersetzt, Maschinen werden angeschafft, das elektrische Licht angelegt. Die Jugend arbeitet in den Fabriken von Butzbach, und man sieht das Vorbild in dem Städter, der es schöner und besser auf der Welt hat. 1910 baut man die Butzbach-Licher-Eisenbahn durch die Gemarkung, und der Bauer stellte nur ungern sein Land zur Verfügung. Man sitzt heute nicht mehr in der Wirtschaft zusammen und spricht von Äckern und Viehwirtschaft, sondern schaltet das Radio an, hört die täglichen politischen Begebenheiten in der Welt, vernimmt Vorträge über dieses und jenes, Unterhaltungsmusik, und die Jugend im entferntesten Dorf kennt bald den neuesten Schlager der Großstadt. Zeitungen, Wanderbibliotheken, Vereine und Kinos helfen noch die Kluft zwischen Dorf und Stadt überbrücken.

Ist es da nicht verständlich, daß man auch in der Kleidung dem Städter nicht nachstehen darf? Leichten Herzens entledigt man sich so der "rückständigen" Tracht und gibt sein altes, gemeinschaftsbindendes Volksgut auf. Zuerst waren es die Männer des Hüttenberges, die sich nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ihrer Tracht entledigten und bereits um die Mitte des vorigen Jahrhunderts moderne Kleidung trugen.

Die Frauen blieben damals ihren Kleidern treu, und erst der Weltkrieg hat hier die Auflösung herbeigeführt. Dieser äußeren Wandlung geht eine tief innere der Dorfseele voraus: das Schwinden des Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühls. Von Jugend auf ist heute der Dorfgemeinschaftsgeist nicht mehr so vorhanden wie früher. Die schulentlassene Jugend ist bald in alle Winde zerstreut, um einen Beruf zu erlernen. Auch die Familie läßt ihre Glieder der Dorfgemeinschaft etwas fremder werden.."

"..Die Frauentracht ist nun heute nicht nur in Ebersgöns, sondern im ganzen Hüttenberg dem Untergang geweiht.

Die Mädchen schämen sich der "alten" Kleidung, mit der sie überall "auffallen". Als während des Weltkrieges die Frauen wegen Abwesenheit der Männer auch deren Arbeit mit übernehmen mußten und deshalb mehr mit der Außenwelt in Berührung kamen, verblaßten die alten Gewohnheiten, und die Tracht erschien steif und unpraktisch. Manches Hüttenberger Mädchen, das nach dem Krieg außerhalb des Trachtengebietes zum Tanz ging, mußte in höhnischem Ton hören: "Alleweil kommen die Stümper" (Mit Stümper bezeichnet man hier die Kleidung) und sich somit zur Person zweiter Klasse stempeln lassen. Es kam sogar soweit, daß die männliche Jugend des Hüttenberges ihre Bräute und Schwestern anhielt, die schöne Kleidung abzulegen, "um sich überhaupt auswärts sehen lassen zu können."

Viele innere und äußere Anlässe führten so dazu, daß man sich mit einem Male der Tracht entledigte. Plötzlich erkennt man auch, daß die enge Einschnürung gesundheitsschädlich ist, daß durch das straffe, hochgekämmte Haar an den Schläfen "Platten" entstehen, und die ganze Vermummung hindere schließlich den Körper an der notwendigen Ausdünstung.

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